Was ist "apollinisch" u. "dionysisch"?
N stellt dieses Begriffspaar gleich in den ersten
Sätzen seines Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geist
der Musik vor und tritt damit förmlich eine Lawine los. Wie so oft
bei N, liegt das Problem darin, dass dieses Begriffspaar eine schlagwortartige
Formel geworden ist, die - nicht ohne Mitschuld ihres Urhebers - dem Missverständnis
Tür und Tor öffnet. Die häufigste, weil auch naheliegendste Simplifizierung
ist die Assoziierung der Kontraste von Tag und Nacht, bewusst und unbewusst,
**Aufklärung und **Romantik.
Bleibt man statt dessen nahe beim Text und stellt sich die Frage, ob im
"Dionysischen" wirklich "der Geist der Musik" steckt, so führt das ebenfalls
in eine nebelhafte Irre. Eine umfangreiche Studie ist genau dieser Frage
nachgegangen; ihr Verfasser hat jedoch geflissentlich ignoriert, dass
wir die Frage bei N selbst recht schlüssig beantwortet finden. N distanziert
sich nämlich später ganz entschieden von dieser "anstößig
hegelisch" riechenden Dialektik.
Zum einen interessiert ihn das "Apollinische" ("die Kunstwelt des Traumes")
kaum noch, zum anderen sucht er einen ganz anderen Zugang zu dem, was
ihn nach wie vor brennend interessiert: das "Dionysische". Dionysos ist
- als Symbol und dichterische Gestalt - dann keine "Kunstgottheit" mehr,
schon gar nicht eine historische, auch nicht nur ein Symbol des "Rauschhaften",
sondern eine Lebensgottheit. Als solche repräsentiert sie Leben in seiner
höchsten Form, weil sie Tod und Vernichtung nicht als Gegensatz, sondern
als Teil des Lebens in sich trägt und bejaht. Dazu bekennt sich N bis
zuletzt (die Dionysos-Dithyramben sind das letzte Manuskript, das er druckfertig
macht), und erklärt auch ausdrücklich, dass der Name Dionysos
nur ein Symbol ist.
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